«La LAMal a besoin d’une petite révolution»
Sie sind als Ärztin und Arzt und in der Prävention tätig. Was tun Sie persönlich, um sich gesund zu halten?
Karin Faisst: Diese Frage wird mir häufig gestellt. Ich frage mich dann jeweils: Erkundigt man sich beim Pfarrer auch, wann er das letzte Mal gebetet hat? Aber natürlich tue ich etwas für meine Gesundheit. Ich habe mich kürzlich entschlossen, mit Jonglieren anzufangen und bis im Sommer mit vier Bällen jonglieren zu können. Das hilft der Koordination und tut der Psyche gut.
Oliver Senn: Diese Frage wird mir nicht so häufig gestellt, wie dir, Karin. Ich treibe Sport, rauche nicht und pflege soziale Kontakte.
Prévention: autant d’acteurs que d’objectifs
Dans la LAMal, la prévention demeure l’exception. Les compétences et les moyens sont-ils bien répartis?
Reden wir in der Gesundheitspolitik generell zu viel über Krankheit, übers «Reparieren» und zu wenig darüber, wie Menschen ihre Gesundheit stärken können?
Karin Faisst: Wir reden viel über Gesundheit, meinen aber Krankheit, das ist ein Grundsatzproblem. Unser System ist eindeutig auf Krankheit ausgerichtet. Wir reden viel über die Finanzierung des Gesundheitswesens oder die Bekämpfung des Ärztemangels, aber viel zu selten über die Stärkung von Wohlbefinden und Gesundheit.
Die Lebenserwartung in der Schweiz liegt bei 84 Jahren und damit über dem OECD-Durchschnitt von 81 Jahren. Alles paletti?
Karin Faisst: Es gibt tatsächlich Fortschritte. Dennoch sind die Gesundheitskosten in den letzten Jahren massiv gestiegen und sie steigen weiter. Letztendlich geht es darum, dass wir bis ins hohe Alter so gesund wie möglich bleiben.
Oliver Senn: Ich sehe das auch so. Interessant ist bei dieser Diskussion, dass niemand gegen Prävention ist, so wie auch niemand gegen Hausarztmedizin ist. Als Politiker bzw. Politikerin würde man wohl abgewählt. Aber wenn es an die konkrete Umsetzung von präventiven Massnahmen geht, ans Eingemachte, dann bleibt es oft bei leeren Worten.
Warum ist das so?
Karin Faisst: In der Schweiz dominiert die Haltung, dass jeder für sich und seine Gesundheit selbst zuständig ist. Ich muss mich als Präventivmedizinerin dauernd rechtfertigen. Mein Job ist es zwar, die Gesundheit der Bevölkerung im Kanton St. Gallen zu schützen und zu fördern, aber als Erstes höre ich immer: Jetzt kommt die Gesundheitspolizistin und will mir mein Glas Wein oder meine Bratwurst verbieten. Ich will nichts verbieten. Es geht darum, dass Menschen im Alltag gesunde Entscheidungen treffen können, es geht um den einfachen Zugang zu präventiven Leistungen für alle, es geht um Schularztuntersuchungen, um solche Dinge. Das muss ich dann immer erklären.
Oliver Senn: Das war genau die Debatte 2012, als das Präventionsgesetz scheiterte. Die Verteidiger der Eigenverantwortung versuchten, die Prävention in die Verbotsecke zu stellen. Eine solche Polarisierung bringt uns aber nicht weiter.
«Am KVG ist störend, dass präventive Leistungen ärztlich durchgeführt werden müssen.»
Karin Faisst
Wo steht die Schweiz in Ihren Augen heute bei der Prävention? Wir investierten 2019 2,2 Prozent der Gesundheitsausgaben in Gesundheitsförderung und Prävention, weniger als im Schnitt der OECD-Länder – sind wir diesbezüglich ein Entwicklungsland?
Karin Faisst: Da gibt es eindeutig Luft nach oben. Beim Tabak etwa sind wir im europäischen Vergleich auf dem vorletzten Platz. Da wäre mehr zu tun mit Werbeverboten, Steuererhöhungen oder einem erschwerten Zugang von Jugendlichen zu E-Zigaretten.
Oliver Senn: Ja, bei der Raucherquote der Jungen stehen wir schlecht da. Aber gerade beim Tabak zeigt sich auch exemplarisch, was mit Prävention möglich ist. Heute ist niemand mehr gegen den Schutz vor Passivrauchen in Restaurants und Zügen. Das war eine Riesendebatte und ist heute absolut kein Thema mehr. Die Faktenlage zeigt klar, dass die Herz-Kreislauf-Morbidität und -Mortalität günstig beeinflusst werden. Prävention tut also nicht weh, ganz im Gegenteil.
Karin Faisst: Ein gutes Beispiel ist auch die Gurtentragpflicht im Auto. Es gab seinerzeit heftigen Widerstand, aber heute sind sich alle einig, dass diese Massnahme viele Leben rettet, ohne wehzutun. Aber nochmal: Gesetzliche Vorgaben sind nicht das erste Ziel von Prävention.
Herr Senn, in diesem Magazin steht, Prävention friste im Krankenversicherungsgesetz KVG nur ein Nischendasein. Wie merken Sie das im Alltag als Hausarzt?
Oliver Senn: Eigentlich sind in der Hausarztpraxis Tür und Tor offen für Prävention. Die Menschen kommen freiwillig zu mir und sind motiviert, ihre Gesundheit zu verbessern. Aber das heutige System ist auf das Kurieren von Krankheiten ausgelegt und im KVG gibt es die akademische Unterscheidung zwischen Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention. Für mich spielt es aber in der Raucherberatung keine Rolle, ob jemand beschwerdefrei ist, hustet oder schon einen Herzinfarkt hatte. Diese Unterscheidung ist unsinnig und beim Abrechnen kommt es zum Schwarzer-Peter-Spiel. Stossend finde ich auch, dass ein Patient einen präventiven Check-up beim Hausarzt oder der Hausärztin in der Regel mit der Franchise selbst bezahlt. Das zeigt den heutigen Stellenwert von Prävention. Dabei könnten wir mit einfachen Mitteln wie Blutdruckmessungen, bestimmten Blutuntersuchungen und dem ärztlichen Gespräch gesundheitliche Risiken leicht feststellen. Für diese Massnahmen besteht eine wissenschaftliche Evidenz.
Karin Faisst: Ich finde im heutigen KVG störend, dass präventive Leistungen ärztlich durchgeführt werden müssen. Zum Beispiel bei der Sturzprävention könnten auch medizinische Praxismitarbeitende eine erste Evaluation machen. Es wäre viel mehr möglich, aber in Sachen Prävention fehlt es heute an allem: den Abläufen, den Abrechnungsmöglichkeiten, der Koordination mit anderen Leistungserbringern und nicht zuletzt am Geld.
Oliver Senn: Ja, es ist einfach Schwachsinn, dass im KVG steht, Prävention müsse durch ärztliche Leistungserbringer erbracht werden. Medizinische Praxismitarbeitende und andere nicht ärztliche Fachpersonen können mit ihrer Ausbildung ebenfalls abschätzen, ob ein Sturzrisiko vorliegt oder nicht, es braucht kein ärztliches Personal.
«Prävention nützt da am meisten, wo das Risiko am höchsten ist, also bei sozial benachteiligten Schichten.»
Oliver Senn
Was ist mit den Menschen, die nie zum Hausarzt bzw. zur Hausärztin gehen?
Karin Faisst: Das ist ein Problem. In der Prävention sind wir gerade an diesen Menschen interessiert. Etwa jemand, der 40-jährig ist, keine Beschwerden hat und trotzdem etwas für seine Gesundheit tun sollte. Oder eine Migrantin ohne Hausarzt bzw. Hausärztin, wie erreichen wir sie?
Oliver Senn: Da sind wir bei den sozialen Ungleichheiten. Prävention nützt da am meisten, wo das Risiko am höchsten ist, also bei sozial benachteiligten Schichten. Als Hausarzt komme ich da nur schwer heran. Da müssten die Sozial- und Bildungspolitik ansetzen mit dem Ziel, soziale Ungleichheiten zu vermindern. Prävention ist ganzheitlich zu denken und das geschieht heute noch viel zu wenig.
Der Nutzen von Präventionsmassnahmen wird in politischen Diskussionen immer noch häufig angezweifelt. Nervt Sie das?
Karin Faisst: Wie würde die Welt aussehen, wenn wir gar nichts täten? Vergessen wir nicht: Der Markt da draussen versucht, möglichst viel Kundschaft zu gewinnen. Die Nahrungsmittelindustrie verwendet Zucker, weil wir den gerne mögen, die Tabakindustrie will uns mit Werbung verführen. Da muss die Prävention dagegenhalten. Aber es gibt gute Beispiele für die Wirksamkeit, etwa, dass dank Massnahmen in Kindergärten und Schulen das Übergewicht von Schulkindern in Städten reduziert wurde. Oder dass dank der Kampagne «Wie geht’s dir?» von Gesundheitsförderung Schweiz das Thema psychische Gesundheit jetzt in unserem Mindset ist und die Gesellschaft offener ist, nach Lösungen zu suchen. Anders als bei Medikamenten wirkt Prävention im Leben und ist dementsprechend schwieriger nachzuweisen.
Oliver Senn: Auch in der HIV-Prävention waren wir sehr erfolgreich und bei der Verminderung des Drogenkonsums haben wir sogar Vorbildfunktion. Schade ist, dass Gesundheitsschutz in der Primärprävention oft nur auf Kampagnen und Plakate reduziert wird. Da hängt viel mehr dran, Begleitung, Koordination, damit die Menschen ihr Verhalten wirklich ändern können.
Wenn Sie ein freies Feld vor sich hätten, wo würden Sie in der Prävention konkret den Hebel ansetzen?
Oliver Senn: Ich würde wie gesagt beim KVG ansetzen. In meinem Praxisalltag macht die Grenze zwischen Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention einfach keinen Sinn. Und wenn jemand zu mir zum Check-up kommt und etwas tun will, sollte er befreit sein von der Franchise. So lassen sich auch soziale Ungleichheiten reduzieren.
Karin Faisst: Ach, ich hätte viele Ideen. Auch ich würde das KVG zeitgemäss aufstellen. Es legt den Fokus auf Krankheit und nicht auf Prävention. Es bräuchte eine kleine Revolution, eine neue Denkweise, weg von der Krankheitsfalle. In meinen Augen müssten sich auch strukturelle Dinge ändern. Für mich ist völlig klar, dass Impfungen, etwa die Masernimpfung, vom Selbstbehalt befreit sein müssten. Damit würde das Signal ausgesendet: Es ist wichtig, dass ihr das tut, und es ist selbstverständlich kostenlos. Man müsste mehr in die Bildung investieren …
Oliver Senn: … und das heute übliche Silodenken sprengen. Heute haben wir eine starke Fragmentierung, es braucht aber einen ganzheitlichen Ansatz. Gesundheitsvorsorge ist eben auch Bildungspolitik, Ökologie, Ökonomie und gar Raumplanung. Ein Architekt müsste automatisch auf die Idee kommen, in der Zürcher Europaallee Bäume zu pflanzen, damit sie sich nicht auf 40 Grad aufheizt im Sommer. Das kommt der Gesundheit zugute und reduziert die Kosten bei den Leistungen.
Nun schreibt Philomena Colatrella, CEO der CSS, in diesem Heft, sie möchte, dass Krankenversicherungen eine aktivere Rolle übernehmen in der Prävention. Was sagen Sie dazu?
Karin Faisst: Grundsätzlich haben die Kassen in der Zusatzversicherung heute schon Möglichkeiten, Einfluss auf die Gesundheit zu nehmen, zum Beispiel mit Fitness-Abos. Ich würde mir wünschen, dass sie sich auch mehr in der Grundversicherung engagieren. Aber oft erlebe ich die Versicherer in Diskussionen um Präventionsmassnahmen als knallhart. Zum Beispiel als es darum ging, die Schularzt-Impfungen von zwölf auf 14 Franken anzuheben. Da hiess es zuerst einfach Nein und es wurde eine schwierige Debatte. Bevor sie neue Angebote kreieren, sollten die Versicherer den heutigen Spielraum besser nutzen.
Oliver Senn: Das ist ein gutes Beispiel. Wir haben bei der hochwirksamen HPV-Impfung gegen Genitalkrebs insbesondere bei männlichen Jugendlichen eine sehr niedrige Impfrate. Bei der Vergütung gibt es aber unnötige, administrative Hürden. Die Versicherer könnten sich dafür einsetzen, dies zu vereinfachen. Es ist wünschenswert, dass sich Versicherer vermehrt in der Prävention engagieren wollen. Aber sie sollten es bei denjenigen tun, die das höchste Risiko und in der Regel keine Zusatzversicherung haben.